Spurwechsler auf der Autobahn haftet trotz Auffahrunfall

Der Kläger fuhr mit seinem Pkw Fiat, an der Anschlussstelle Hamm/Bockum/Werne auf die BAB 1 in Fahrtrichtung Köln auf, indem er zunächst vom Beschleunigungsstreifen nach links auf .die rechte Fahrspur der Autobahn wechselte. Vor ihm fuhr ein Lkw, der an derselben Anschlussstelle ebenfalls gerade auf die Autobahn aufgefahren war.
Es regnete, die Fahrbahn war nass.
Vom rechten Fahrstreifen aus wechselte der Kläger auf den linken Fahrstreifen, um den vor ihm fahrenden Lkw zu überholen.
Dort kollidierte er mit dem von hinten auf der linken Fahrspur der BAB 1 herannahenden Fahrzeug des Beklagten zu 1), einem Pkw Mercedes bezüglich dessen bei der Beklagten zu 2) eine Haftpflichtversicherung bestand.
Das Klägerfahrzeug wurde hierbei nicht unerheblich beschädigt.
Die für eine ordnungsgemäße Instandsetzung erforderlichen Reparaturkosten belaufen sich ausweislich eines vom Kläger vorprozessual eingeholten Schadensgutachtens der Firma GmbH vom 09.02.2016 (BI.5 ff. d.A.), für welches ihm Kosten in Höhe von 543,83 € in Rechnung gestellt wurden, auf netto 2.126,31 €. Der Kläger begehrt die Verurteilung der Beklagten zur Erstattung dieser sowie seiner von ihm pauschal mit 25,00 € bezifferten weiteren Unkosten, ferner zur Zahlung der Sachverständigenkosten an das Sachverständigenbüro, an welches er seine diesbezüglichen Ersatzansprüche gegenüber den Beklagten sicherungshalber abgetreten hat, und schließlich zur Erstattung der ihm vorgerichtlich entstandenen Rechtsanwaltskosten.
Die Beklagte zu 2) wurde mit Schreiben vom 10.02.2016 (BI.24/25 d.A.) zur Zahlung aufgefordert und lehnte eine solche mit Schreiben vom 11.03.2016 (BI.26 d.A.) ab.
Der Kläger behauptet, der Beklagte zu 1) sei mit unangepasster und überhöhter Geschwindigkeit gefahren und zudem unaufmerksam gewesen. Er selbst habe sich, bevor er vom rechten auf den linken Fahrstreifen gefahren sei, durch Blicke in den linken Außenspiegel und über die linke Schulter vergewissert, dass der Verkehrsraum hinter ihm frei sei. Es sei kein Fahrzeug zu sehen gewesen. Ferner habe er den linken Fahrtrichtungsanzeiger betätigt. Weiter behauptet der Kläger, er sei schon ca. acht bis zehn Sekunden lang auf dem linken Fahrstreifen gefahren und habe den Überholvorgang schon so weit fortgesetzt, dass er sich etwa auf Höhe des Führerhauses des überholten Lkw befunden habe, als es zur Kollision mit dem Beklagtenfahrzeug gekommen sei. Diese sei für ihn unvermeidbar gewesen.

Der Kläger beantragt,
1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 2.151,31 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit
dem 11.03.2016 zu zahlen;
2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, ihn von den Gutachterkosten der Firma Kfz-Sachverständigenbüro Autotax GmbH, Borker Straße
90, 45731 Waltrop, in Höhe von 543,83 € freizustellen;
3. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 334,75 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit
Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagten beantragen,

die Klage abzuweisen.

Widerklagend beantragen sie,
festzustellen, dass der am 04.02.2016 gegen 12:10 Uhr auf der Hauptfahrbahn der Al, Höhe Anschlussstelle Hamm/Bockum/Werne, Fahrtrichtung Köln, km 304,940, zwischen dem Kläger und dem Beklagten zu 1) sich ereignete Unfall zu 100% vom Kläger verursacht wurde.

Der Kläger beantragt,
die Widerklage abzuweisen.

Die Beklagten behaupten, der Beklagte zu 1) habe die Autobahn auf dem linken Fahrstreifen mit etwa 120 bis 130 km/h befahren und einen ausreichenden Sicherheitsabstand zu dem vorausfahrenden Fahrzeug eingehalten. Auf dem rechten Fahrstreifen seien mehrere Lkw hintereinander gefahren.
Weiterhin behaupten die Beklagten, der Kläger sei nach dem Wechsel vom Beschleunigungs- auf den rechten Fahrstreifen unmittelbar weiter nach links auf den linken Fahrstreifen gefahren und dabei unmittelbar vor dem Beklagtenfahrzeug mit nur geringem Abstand zu diesem eingeschert. Der Beklagte zu 1) habe die Kollision trotz einer von ihm noch eingeleiteten Notbremsung nicht mehr vermeiden können.
Die Klage ist den Beklagten am 09.05.2016 zugestellt worden.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch uneidliche Vernehmung der Zeugin sowie durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens, welches von diesem im Rahmen der mündlichen Verhandlung persönlich weitergehend erläutert wurde. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsprotokoll vom 28.09.2016 (BI.63 ff. d.A.) und 22.11.2017 (BI.179 f. d.A.) sowie das schriftliche Gutachten vom 10.05.2017 (BI.109 ff. d.A.) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
Dem Kläger stehen aufgrund des streitgegenständlichen Verkehrsunfalls Schadenersatzansprüche gegenüber den Beklagten nicht zu. Solche ergeben sich für ihn insbesondere nicht aus §§ 823 Abs.1 BGB, 7, 18 StVG, 115 Abs.1 S.1 Nr.1 WG, 1 PfIVG.
Die Beklagten haften nicht für den dem Kläger unfallbedingt eingetretenen Schaden.

Zwar spricht im Regelfall bei Auffahrunfällen der erste Anschein für ein Verschulden des auffahrenden Verkehrsteilnehmers. Dieser erste Anschein wird aber erschüttert, wenn ein typischer Verlauf feststeht, bei dem die Verschuldensfrage in einem anderen Licht erscheint. Das ist der Fall, wenn das vorausfahrende Fahrzeug im engen zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Unfall von dem Beschleunigungsstreifen in den durchgehenden Fahrstreifen der Autobahn eingefahren oder auf den Überholstreifen hinübergewechselt ist, auf dem sich der Auffahrende befand. Denn dann gilt nicht der Erfahrungssatz, dass der Auffahrende diesen Unfall infolge zu hoher Geschwindigkeit oder Unaufmerksamkeit verschuldet hat; ebenso nahe liegt vielmehr dann der Schluss, dass sein vorderer Sicherheitsbereich durch einen Fahrfehler des Voranfahrenden verkürzt worden ist (OLG Hamm NZV 1994, 229; Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Janker — Heß, Straßenverkehrsrecht, 24. Auflage 2016, § 7 StVO, Rn.25). Der für ein Verschulden des Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis ist daher in solchen Fällen regelmäßig nicht anwendbar (BGHZ 192, 84).
Aufgrund des Ergebnisses der durchgeführten Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass hier eine derartige den Anscheinsbeweis erschütternde Situation vorliegt.

Nach den durchweg plausiblen und nachvollziehbaren, von ihm im Rahmen der mündlichen Verhandlung auch noch weitergehend erläuterten Feststellungen des Sachverständigen Gohmann in seinem schriftlichen Gutachten vom 10.05.2017 kann die Geradeausfahrt des Klägers auf dem Überholfahrstreifen allenfalls etwa eine Sekunde angedauert haben, bevor es zur Kollision mit dem Beklagtenfahrzeug kam.
Zwar steht dies im Widerspruch zu den Angaben der Zeugin Schulenberg, die bekundet hat, der Kläger sei schon fast an dem überholten Lkw vorbei gewesen, als es zur Kollision kam. Das Gericht hegt auch keine Zweifel an der grundsätzlichen Glaubwürdigkeit der Zeugin. Jedoch vertraut es der objektiv eindeutigen Weg-Zeit-Berechnung des Sachverständigen in dieser Frage mehr als der genauen Wahrnehmung und Erinnerung der Zeugin, die durch zahlreiche Faktoren getrübt sein können — etwa durch den Zeitablauf zwischen dem Unfallgeschehen und ihrer Vernehmung oder aber auch durch den Umstand, dass der Kläger und sie nach ihrem eigenen Bekunden kurz vor der Kollision eine Unterhaltung begonnen hatten.
Steht die Kollision zweier Fahrzeuge in einem unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einem Spurwechsel, spricht indes ein Anscheinsbeweis dafür, dass der Spurwechsler seine Sorgfaltspflichten missachtet hat. Wegen der hohen Sorgfaltsanforderungen des § 7 Abs.5 StVO tritt eine etwaige Haftung aus Betriebsgefahr hinter der Haftung des Spurwechslers grundsätzlich zurück (Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Janker — Heß a.a.O.).
Dem Kläger ist die Erschütterung des Anscheinsbeweises vorliegend auch nicht durch den Beweis seiner Behauptung gelungen, er habe sich vor dem Wechsel auf die linke Fahrspur durch Blicke in den linken Außenspiegel und über die linke Schulter davon überzeugt, dass die Spur frei sei. Die von ihm hierfür benannte Zeugin vermochte nicht anzugeben, wohin der Kläger vor dem Fahrstreifenwechsel geschaut habe. Der Kläger selbst hat angegeben, das Beklagtenfahrzeug bei seiner angeblichen Rückschau nicht gesehen zu haben. („Da war kein Fahrzeug, da war nichts zu sehen.“) Allein aus der unstreitigen Tatsache, dass es kurze Zeit später zu einer Kollision mit dem Beklagtenfahrzeug kam, lässt nach allgemeiner Lebenserfahrung darauf schließen, dass dieses bei hinreichend sorgfältiger Rückschau für den Kläger erkennbar gewesen sein muss, wovon im Übrigen auch der Sachverständige ausgeht.
Erfolgt der Spurwechsel ferner — wie hier — im Rahmen eines Überholmanövers, so kommen über § 7 Abs.5 StVO hinaus auch die §§ 5 Abs.4 S.1 und 18 Abs.4 StVO zum Tragen: § 5 Abs.4 S.1 StVO bestimmt allgemein, dass derjenige, der zum Überholen ausscheren will, auf den nachfolgenden Verkehr zu achten hat. Diese Verantwortlichkeit des Überholenden wird durch § 18 Abs.4 StVO für Überholvorgänge auf Autobahnen noch verschärft, indem geregelt ist, dass beim Überholen eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen sein muss. Der Überholende muss sich, bevor er die Fahrspur wechselt, vergewissern, dass die Gefährdung eines nachfolgenden Fahrzeugs ausgeschlossen ist. Schätzt er die Entfernung oder die Geschwindigkeit des Nachfolgenden falsch ein, geht das zu seinen Lasten (OLG Köln VersR 1978, 143).
Von einer Mithaftung des Auffahrenden jedenfalls im Umfang der normalen Betriebsgefahr ist lediglich dann auszugehen, wenn diesem eigenes Fehlverhalten wie etwa eine Überschreitung der Richtgeschwindigkeit (insbesondere bei Dunkelheit) vorzuwerfen ist (Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Janker — Heß a.a.O.).
Den Beweis seiner dahingehenden Behauptung hat der Kläger indes nicht geführt. Nach den Feststellungen des Sachverständigen betrug die Kollisionsgeschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs rund 110 bis 120 km/h. Ein konkreter Anhalt dafür, dass sich der Beklagte zu 1) mit einer höheren als der von ihm angegebenen Geschwindigkeit von 120 bis 130 km/h dem Unfallort näherte oder gar die Autobahnrichtgeschwindigkeit von 130 km/h überschritt, ist nach den Berechnungen des Sachverständigen aus technischer Sicht nicht gegeben.
Eine sogar über die einfache Betriebsgefahr hinausgehende Mithaftung des Auffahrenden kommt in Betracht, wenn dieser die Geschwindigkeit nicht herabgesetzt hat, obwohl er den Spurwechsel erkennen konnte (Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Janker — Heß a.a.O.). Auch dies ist vorliegend aber nicht bewiesen.
Wenn allerdings der auf die Autobahn Auffahrende „in einem Zug“ vom Beschleunigungsstreifen auf die linke „Überholspur“ fährt, haftet er regelmäßig voll (OLG Hamm a.a.O.; Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Janker — Heß a.a.O., Rn.28). Das ist hier der Fall.
Nach den Feststellungen des Sachverständigen ist davon auszugehen, dass mit dem klägerischen Fahrzeug unmittelbar vom Beschleunigungsstreifen über die rechte Fahrspur hinweg auf die linke Fahrspur übergewechselt wurde. Dies deckt sich im Übrigen auch mit den Angaben der vom Kläger benannten Zeugin, welche im Unfallzeitpunkt seine Beifahrerin war. Diese hat bekundet, der Kläger sei vom Beschleunigungs- auf den rechten Fahrstreifen gefahren, dann aber direkt auf den linken Fahrstreifen gewechselt.
Nach alledem bleibt im Ergebnis der nach § 17 StVG vorzunehmenden Abwägung der Verschuldens- und Verursachungsbeiträge für eine auch nur anteilige Haftung der Beklagten kein Raum.

Gemäß § 256 Abs.1 ZPO kann bei Vorliegen eines rechtlichen Interesses auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses, auf Anerkennung einer Urkunde oder auf Feststellung ihrer Unechtheit Klage erhoben werden. Ein Rechtsverhältnis ist hierbei die Beziehung einer Person zu einer anderen Person oder einer Sache, die ein subjektives Recht enthält oder aus der solche Rechte entspringen können (Zöller — Greger, ZPO, 27. Auflage 2008, § 256, Rn.3).
Die Beklagten begehren vorliegend mit der Widerklage die Feststellung, dass der Kläger den streitgegenständlichen Verkehrsunfall allein verursacht habe. Hierbei handelt es sich indes nicht um ein Rechtsverhältnis. Festgestellt werden könnte etwa eine Schadenersatzpflicht des Klägers aufgrund des Verkehrsunfalls oder die alleinige Haftung des Klägers für den hierbei entstandenen Schaden. Darauf ist der mit der Widerklage verfolgte Antrag jedoch nicht gerichtet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs.1 ZPO.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit hat seine Grundlage in §§ 708 Nr.11, 711.

Urteil AG Lünen, Dez. 2017

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